Zeugen Jehovas statt HSV

Zeugen Jehovas:
Gotteskrieg im Fußballtempel

von Judith Pape, NDR.de    2014-07-18
Kongress in der Imtech Arena © NDR Fotograf: Judith Pape

Zehntausende Zeugen Jehovas feiern in Hamburg ihren Regionalkongress als Höhepunkt im Jahr.

Es gleicht einer Pilgerwanderung, die da am Freitagmorgen auf das Fußballstadion am Hamburger Volkspark zuströmt. Zehntausende norddeutsche Zeugen Jehovas sind zum Regionalkongress in die Hansestadt gekommen. Emsig tragen Familien Verpflegungskörbe und Aktentaschen hinein. Alle sind festlich zurechtgemacht: Die Frauen und Mädchen tragen Rock oder Kleid, die Männer Hemd und Krawatte. Kleine Jungs flitzen mit Fliege und weißem Hemd durch die Reihen. Auf den Sitzen, auf denen sonst die Fans des HSV für den Sieg beten, werden sie bis Sonntag gemeinsam Bibelstunde feiern und für Jehova singen.

Das ist wie ein Klassentreffen

Angélique Richter © NDR Fotograf: Judith Pape

Angélique Richter (r.) ist bereits in die Glaubensgemeinschaft hineingeboren.

„Suchet zuerst Gottes Königreich“ – die Losung des Kongresses ist nicht zu übersehen. Auf großen Bannern prangt sie neben dem Rednerpult und jeder Teilnehmer trägt ein kleines Namensschild mit dem Spruch an der Brust. Es liegt eine freudig erregte Stimmung in der Luft, während die Teilnehmer ihre Plätze in der Arena suchen. Immer wieder bleiben sie stehen, um bekannte Gesichter zu begrüßen. „Das ist wie ein Klassentreffen – ein Höhepunkt im Jahr“, sagt Angélique Richter. Die junge Frau aus Hamburg ist eine sogenannte Hineingeborene, auch ihre Eltern sind Zeugen Jehovas. Um mehr Zeit für die Missionsarbeit zu haben, ist sie in ihrem Job bei einer Reederei auf eine halbe Stelle gegangen. Mit kritischen Gegenstimmen könne sie gut umgehen, „das kommt ja nicht unerwartet“.

Margit Rolf ist ausgestiegen

So friedlich und harmonisch die Gemeinschaft bei dem Kongress wirkt, Margit Ricarda Rolf hat die andere Seite kennengelernt. 16 Jahre lang war die Hamburgerin bekennende Zeugin Jehovas. Zweimal die Woche besuchte sie mit ihrer Familie die Zusammenkunft, den Gottesdienst der Zeugen. Abends studierte sie die Bibel. Als diskussionsfreudige Frau liebte sie die Haus-zu-Haus-Besuche, bei denen sie mit der Zeitschrift „Wachturm“ in der Hand bei Unbekannten klingelte, um sie von der Weltanschauung der Sekte zu überzeugen. Doch dann beschlichen sie Zweifel.

Die Zeugen Jehovas …

… sind eine im späten 19. Jahrhundert in den USA
von Charles Taze Russell gegründete christliche Glaubensgemeinschaft.

Weltweit gibt es nach eigenen Angaben etwa 7,9 Millionen aktive Mitglieder (2013), davon ca. 165.000 in Deutschland, 21.000 in Österreich und knapp 18.600 in der Schweiz.   Jehovas Zeugen beten zum „allmächtigen und ewigen Gott“ Jehova.  Jehovas Zeugen sind für ihre stark ausgeprägte Missionstätigkeit, ihre Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet!“, ihre Ablehnung von Bluttransfusionen und ihre Verweigerung des Militärdienstes bekannt. Sie wurden unter den Nationalsozialisten und in der DDR verfolgt.

Gewissenskonflikte sind permanente Begleiter

Ihre vier Kinder seien von Beginn an in die Strukturen der Sekte eingebunden gewesen, erzählt Margit Rolf. Mit Beginn der Pubertät gab es Probleme bei ihrer ältesten Tochter. „Mama, ich empfinde keine Freude“, sagte das Mädchen nach einer Versammlung. Noch heute ist die Mutter sichtlich gerührt, wenn sie an den Moment denkt. Die Regeln in der Gemeinschaft sind strikt. Insbesondere Kinder geraten immer wieder in Gewissenskonflikte. Die Zeugen Jehovas verweigern sich der übrigen Gesellschaft nicht nur, indem sie Bluttransfusionen verbieten, weder zu Wahlen noch zum Militär gehen. Auch christliche Feste wie Weihnachten oder Ostern lehnen sie als heidnisch ab, Geburtstage feiern sie nicht. In der Schule geraten die Kinder dadurch schnell ins Abseits. Jegliche Sexualität außerhalb der Ehe ist verboten. Jugendliche, die gerade beginnen, ihren Körper zu entdecken, stehen unter enormem Druck. Mit 17 verlässt die Tochter von Margit Rolf die Familie. Da Sektenmitgliedern der Kontakt zu Ehemaligen untersagt ist, wendet sich die Mutter von ihrem Kind ab. Der Anfang vom Ende.

Glaube an „Harmagedon“

Margit Ricarda Rolf © NDR Fotograf: Judith Pape

Die ehemalige Zeugin Jehovas, Margit Ricarda Rolf, warnt vor zerstörerischen Strukturen.

2001 schafft Margit Rolf den Ausstieg. Heute berät sie Betroffene. Dabei habe sie viele weitere Beispiele kennengelernt, wie die Zeugen Jehovas Familien zerstören. Das Weltbild der umstrittenen Glaubensgemeinschaft kennt nur zwei Pole: Auf der einen Seite steht die Organisation, die vom heiligen Geist und Jesus geführt wird. Auf der anderen Seite steht der Rest der Welt, der vom Satan beherrscht wird und dem Untergang geweiht ist. Das wichtigste Druckmittel dabei ist ein Gotteskrieg, von den Zeugen Jehovas „Harmagedon“ genannt. Nach der Idee der Sekte überleben diesen Krieg nur diejenigen, die sich ihren strengen Regeln unterwerfen. Weltmenschen, wie Nicht-Zeugen genannt werden, kommen darin um. Schon Kinderschriften sind bespickt mit den schaurigen Illustrationen von Feuersbrünsten und Urgewittern. „Diese Bilder werden Kinder ihr Leben lang nicht mehr los“, sagt Margit Rolf.

Weltuntergangsrethorik auch in Hamburg

Wichtige Schriften der Zeugen Jehovas © NDR Fotograf: Judith Pape

Sobald Kinder der Zeugen Jehovas in der Schule sind, müssen sie für die Sekte Bibelstellen interpretieren. Die Schriften sind ständige Begleiter.

Auch bei dem Kongress in Hamburg kommt der Vortragende nach einem gemeinsamen Lied schnell auf die „Propaganda der Welt, die zu verführen sucht“ und „Harmagedon“ zu sprechen. Einzig Jehova schütze sein Volk. Er selbst sei der Strom und Kanal, zu dem Unbefugte keinen Zutritt hätten. Eine deutliche Warnung an Andersdenkende. Anders als in den weltlich heruntergebrochenen Predigten der christlichen Gottesdienste wird bei den Zeugen Jehovas Bibelzeile für Bibelzeile studiert. Eifrig machen sich Angélique Richter und die anderen Teilnehmer Notizen in ihren mitgebrachten Blöcken. Kritisches, eigenständiges Denken ist unerwünscht.

Neuanfang im Nichts

Zu ihrer ehemaligen Gruppe hat Margit Rolf heute keinen Kontakt mehr. Das alte Leben existiert nicht mehr. In ihrer Ausstiegsarbeit hat sie erlebt, dass gerade die Angst vor der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft viele Diener bei den Zeugen Jehovas hält. „Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen – meine Kinder wurden indoktriniert“, sagt Margit Rolf. „Das Einzige, was ich tun kann, ist Schicksale zu verhindern und Jugendlichen zu helfen, die nicht den Weg der Zeugen Jehovas gehen wollen.“

Quelle:    NDRonline

von Judith Pape,  NDR.de    2014-07-18

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